Handwerkliche Interessenvertretung ist Gratwanderung
Die Interessenvertretung des Handwerks muss auf dem schmalen Grat zwischen nötiger Debatte und respektvollem Miteinander und im demokratisch vorgegebenen Rahmen erfolgen, so ZDH-Präsident Jörg Dittrich in einem Gastbeitrag für Table Media.
Normalerweise bekomme ich Anfragen zu den aktuell virulenten Themen des Handwerks und zu unseren Forderungen, Bürokratie abzubauen, die berufliche Bildung zu stärken, die Finanzierung der Sozialversicherung zu reformieren oder die Steuer- und Abgabenlast zu verringern. Über die Pressestelle des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks hat mich nun die Frage von Table Media erreicht, ob ich mich zum Thema „Gefährdung der offenen Gesellschaft durch Populismus“ äußern wolle.
Allein der Inhalt der Frage zeigt, dass wir nicht in normalen Zeiten leben. Wir leben in Zeiten, in denen Demokratie und Freiheit keine Selbstverständlichkeit mehr sind, sondern von Populisten in Frage gestellt werden. Und wenn wir ehrlich sind, dann sind es nicht nur vereinzelte Außenseiter, die die Strukturprinzipien unseres Staates in die Zange nehmen. Die Prognosen im Wahljahr 2024 zeigen, dass etwas ins Rutschen gekommen ist.
Vielleicht haben wir in den „guten Zeiten“ verlernt, einen kritischen Diskurs zu führen, hart in der Sache, aber mit Anstand zu diskutieren. In früheren Jahrzehnten sind im Bundestag die Fetzen geflogen. Strauß und Wehner lieferten sich dort legendäre Redeschlachten. Die haben sich gestritten wie die Kesselflicker. Dann setzte eine Phase ein, in der es wohl als allzu selbstverständlich erschien, dass Demokratie auch ohne großes Zutun funktioniert.
Die harmonische Kompromisssuche stand im Fokus, Konflikte wurden überwiegend intern und nicht medial laut geführt. Die Parteien wollten nach außen geschlossen und geeint erscheinen. So rieten es Politikberater und PR-Strategen. Vielleicht haben wir es damit übertrieben. Denn heute stellen wir mit Erstaunen fest, dass unsere Demokratie und die Freiheit, in der wir leben, angreifbar sind. Demokratie, Freiheit und Vielfalt werden vom Grundgesetz garantiert. Ja. Aber es sind die Menschen, die diese Prinzipien mit Leben füllen müssen. Und es ist deren tägliches Handeln und Denken, das aus Worten des Grundgesetzes gelebte Realität werden lässt.
Aber was genau ist gelebte Demokratie? Was ein Leben in Freiheit? Wie machen wir unser Land zukunftsfest – wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch? Das müssen wir diskutieren. Dazu gehört auch der Streit um die beste Idee. Meinungsvielfalt ist die Grundlage für die Weiterentwicklung von gesellschaftlichen Diskussionen. Zuspitzung ist nötig, um Gedanken und auch unterschiedliche Lösungsansätze zu verdeutlichen. Wie sollten Politiker und Parteien sonst unterschieden werden und um Wählerstimmen werben? Wo aber beginnt der Populismus, den wir als Gefahr für die Pluralität unseres Landes empfinden?
Soziologen und Politikwissenschaftler schreiben darüber lange Aufsätze und können Kriterien und Definition sicher gut herleiten. Ich bin Dachdeckermeister. So, wie ich es täglich in meinem Handwerksbetrieb erlebe, im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen und mit Kundinnen und Kunden, habe ich den Eindruck, dass es gar nicht darauf ankommt, die perfekte Definition für Populismus parat zu haben. Es geht vor allem um die gefühlte Wahrnehmung der Menschen.
Offenbar haben immer mehr von ihnen den Eindruck, dass politische Entscheidungen ihre Lebensrealität nicht mehr widerspiegeln. Es verfestigt sich bei nicht wenigen offensichtlich das Gefühl, dass diese Entscheidungen von Personen getroffen werden, die eher selten oder gar nicht wissen, wie es in den Betrieben, wie es in entlegenen Landregionen zugeht, und womit die Menschen dort in ihrem Alltag konfrontiert sind. Zur Unsicherheit kommen dann Frust, Ablehnung und Wut hinzu. Und diese Gefühle beherrschen immer mehr auch den politischen Diskurs, in dem es darum gehen sollte, gute Lösungen zu finden.
Wer etwas Herzensbildung hat, merkt jedoch schnell, ob jemand von der Meinungsfreiheit Gebrauch macht, um etwas zum Besseren zu wenden, oder ob es eigentlich darum geht, Hass und Zwiespalt in die Gesellschaft zu tragen. Bei den meisten funktioniert dieser innere Kompass gut. Und er ist in Diskussionen vielleicht manchmal wichtiger als das flüchtige Erfolgsgefühl, Recht zu haben.
„Man kann jemanden bis zum Überdruss widerlegen, ohne ihn zu überzeugen. Das Gefühl überlebt die Einsicht“, hat Jean Paul notiert. Diese so treffend formulierte Beschreibung spiegelt auch die Erfahrungen, die ich in meinem Betrieb mache und die Erfahrungen, die in anderen Handwerksbetrieben gesammelt werden: Nicht über Belehrung werden wir die Menschen erreichen und populistischen Strömungen entgegenwirken, sondern nur dadurch, dass wir zuhören, Angebote machen, Lösungen für die täglichen Sorgen und Unsicherheiten der Beschäftigten schaffen, und dadurch, dass wir wieder Zuversicht verbreiten und Mut machen.
Oft begegnen mir in Diskussionen Menschen, die sich ganz sicher sind, welche weiteren Eskalationen oder Demonstrationen nötig sind, um die Veränderungen zu erreichen, die es jetzt dringend braucht. Nicht selten fallen dann Sätze wie: „Das wird man doch noch sagen dürfen!“ oder „Man darf das so nicht mehr sagen!“ Keine Frage: Die eigene und freie Meinungsäußerung ist ein hohes Gut, aber sie hat ihre Grenzen dort, wo sie sich zur einzig gültigen Meinung aufschwingt und die Meinungen anderer nicht mehr zur Kenntnis nimmt.
Oft melden sich erst nach Veranstaltungen die Ruhigeren bei mir. Es sind die, die es ertragen können, dass nicht sofort für alles die einfache Antwort da ist. Es sind die, die in der Kompromissfindung und -suche den Weg sehen. Es ist aber eben auch gerade diese Gruppe von Menschen, deren Meinung in der Wahrnehmung verloren zu gehen droht.
Die Ruhigeren scheuen häufig die Angreifbarkeit. Sie scheuen, zur Zielscheibe von vorschnellem Niedermachen zu werden. Und plötzlich erleben wir einen unwidersprochenen Populismus. Wie also soll sich der Ruhigere ausdrücken? Laut antworten oder gar auch schreien?
Ich bin überzeugt: Davon wird es nicht besser. Dann schreien wir uns alle nur noch an. Wir müssen im Kontext von Populismus eben auch über Gefühle sprechen. Über unsere Ängste und Sorgen, bei Transformation, Energiewende und Inflation als Verlierer vom Platz gehen zu können. Über Ungewissheit, Unsicherheit und Zögerlichkeit. Letztlich über die Zweifel der Menschen darüber, ob das Zukunftsversprechen noch gilt. Ob es besser wird. Und unsere Kinder eine bessere Zukunft haben werden als wir selbst.
Wie können die Menschen im Herzen erreicht werden? Wie ist es zu schaffen, die Probleme klar zu benennen, Kritik zu üben, ohne dabei Frust zu schüren, Wut, Verzweiflung und Empörung anzustacheln und damit letztlich die Gesellschaft zu spalten?
Genau auf diesem schmalen Grat zwischen nötiger Debatte und respektvollem Miteinander zu wandern, das ist die Pflicht, in der nicht nur ich persönlich, sondern auch die Interessenvertretung des Handwerks steht. Es gilt eine klare Position zu vertreten und auch Kritik zu üben – aber eben immer in dem demokratisch vorgegebenen Rahmen.
Populismus beginnt für mich als Handwerker bei Aussagen, die die Gesellschaft auseinandertreiben. Aussagen, die die Menschen in unüberbrückbare Lager spalten. Aussagen, die das Fundament unserer sozialen Marktwirtschaft zu unterspülen drohen.
Im Handwerk arbeiten viele hochgebildete Menschen. Manche von ihnen mussten Anlauf nehmen, bevor sie Erfolg hatten. Aber die überwältigende Mehrheit von ihnen kann etwas, was uns nicht erst der kleine Prinz gelehrt hat. Nämlich mit dem Herzen sehen. Es ist die Super-Power gegen Populismus.
Und Sie? Was sieht Ihr Herz?
Quelle: www.zdh.de
Bild: ZDH/Henning Schacht